Potsdamer Kunstverein e. V. - Ausstellungen - Archiv: Michael Lüder, Fotografie

Thomas Kumlehn über Michael Lüder
Voranstellen möchte ich ein Gedicht von Donat Schober vom 18.8.2000. Wortlos Gehen oder Kommen Da sein oder bleiben Umkehr oder Anfang Ich stehe vor dem Spiegel Und sehe mich Von hinten Erste Zeitrechnung: 1960-1989 In der Badesaison meiner Kindheit passierte es hin und wieder, dass am »Hasengraben«, der bis heute beliebten Badestelle am Heiligen See, ein Ball über den Zaun flog und im Grenzgebiet landete. Der Pechvogel kletterte in der Regel schleunigst los, um den Ball zu holen. Hin und wieder wurde derjenige von einer Streife erwischt und in seiner Badehose abgeführt. Man nahm die Personalien auf. Danach wurde er wieder zurückgebracht und das Spiel konnte mit ihm weitergehen. Wir mochten die Grenzer nicht. Die Grenze gehörte zum Alltag. Was dahinter war, kannten wir nur aus der Ferne, den Erzählungen der Älteren, aus dem Radio und dem Fernsehen. Michael Lüder wurde am 4. Mai 1960 in Potsdam geboren. Er ist fast auf den Tag genau ein Jahr jünger als ich. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass die Anwesenheit der so genannten Mauer in seiner Heimatstadt auch für seine kindliche Wahrnehmung selbstverständlich war, wie die Anwesenheit der sowjetischen Streitkräfte. Die Besonderheit bestand darin, dass es sich hier – knapp anderthalb Jahre nach seiner Geburt - um die Präsenz einer innerdeutschen Grenze handelte, mit der Potsdam vom damaligen Westberlin getrennt worden ist. Eine Entscheidung der sowjetischen Besatzungsmacht. Alles war auf die Sichtweite reduziert. Dazwischen die Grenzanlagen. Unmittelbar davor die mehrsprachigen Hinweise: Vorsicht Lebensgefahr! Die deutschen Grenzstreifen der so genannten Nationalen Volksarmee patrouillierten meist auffällig zwischen Maschen- und Stacheldraht und übermannshoher Betonmauer. Die Grenze verlief hier in unmittelbarer Nähe, durchschnitt den Neuen Garten, schottete den Jungfernsee ab und ließ die Berliner Straße kurz vor der Glienicker Brücke zur Sackgasse werden. In der Berliner Vorstadt residierten die Militärmissionen der amerikanischen, englischen und französischen Besatzungsmächte. Der frühere Hauptbahnhof nahe der Freundschaftsinsel war nur noch dem Güterverkehr vorbehalten. Personenzüge fuhren vom Hauptbahnhof in der Pirschheide ab. Der »Sputnik« der Deutschen Reichsbahn beispielsweise fuhr statt der S-Bahn von Potsdam nach Berlin. Aus kurz wurde lang. Immer an der Wand lang. Einige der unzähligen sowjetischen Streitkräfte waren rund um den Pfingstberg stationiert. In riesigen eingezäunten Arealen versahen sie ihren Militärdienst. Unmittelbar daneben die Siedlungen der Offiziersfamilien und der KGB. Hier auf dem Pfingstberg tummelten sich abenteuerlustige deutsche und russische Jugendliche. Es gehörte zu den damaligen Mutproben unserer Generation, den einen noch betretbaren Turm des Belvedere zu ersteigen und den Panoramablick auf Potsdam, Babelsberg, bis nach Wannsee zu genießen. Nicht das Weite zu suchen, die Weite zu finden war unser Wunsch. Den Zutritt zum Belvedere hat man von Seiten der Staatlichen Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci immer wieder versucht zu verhindern. Aber wenn, gelang es nur kurzzeitig. Selbst geschweißte Torflügel wurden mit Baumstämmen martialisch gerammt und aufgebrochen. Der Pomonatempel fristete hingegen ein Schattendasein. Wie ein hohler Zahnstumpf dämmerte die Ruine vor sich hin. Der Innenraum bot noch halbwegs Windschutz für ein Lagerfeuer mit dem man Rauchzeichen erzeugen konnte. Größtenteils blieb er unbeachtet und sich selbst überlassen. In einer Dokumentation der Denkmalpflege des Jahres 1965 wurde der Grad der Zerstörung fotografisch festgehalten. Nordwand und Außenraum der Treppe versehrt, noch halbwegs zu erkennen. Die Fassade voller russischer Anfangsbuchstaben der Vor- und Nachnamen von in Potsdam stationierten Soldaten und Offizieren. Touristen ließen sich hier nicht blicken. Ein Bild der Verwahrlosung und des Verfalls. Für die Wiederherstellung der überlieferten Landschaftsgestaltung und den Wiederaufbau der Bauten des Pfingstbergs engagierten sich seit 1987 einige Potsdamer in der Arbeitsgemeinschaft Pfingstberg des Kulturbundes, die Ende 1989 in den Förderverein Pfingstberg e.V. mündete. Die Mauer verschwand indessen Segment für Segment auch aus dem Blickfeld derer, die hier geblieben waren. Zweite Zeitrechnung: 1990 bis heute 1991 veröffentlichte der Ostberliner Fotograf Manfred Paul seinen Bildband »Grenzenlose Räume«. Es war sein akribischer »Versuch einer Dokumentation« der Veränderungen an der Berliner Mauer vom November 1989 bis Dezember 1990. Im Begleitwort beschrieb Manfred Paul seine Irritation, als er zwei seiner Fotos aus den Novembertagen von 1989 schon zwei Jahre später nicht mehr lokalisieren konnte, erneut die Aufnahme-Orte aufsuchte und feststellte, dass die Bilder ebenso wenig vorhanden waren »wie der bedeutsame, prägende Teil« seines »Lebens in der Nähe der Mauer.« Wie rasend schnell sich die Ereignisse in der ersten Hälfte der 90er Jahre überschlagen haben, wird auch anhand weniger Fakten in der Biographie von Michael Lüder deutlich. 1990 beginnt er an der Hochschule für Graphik und Buchkunst in Leipzig bei Arno Fischer und Helfried Strauß zu studieren. 1992 bereits erhält er den Aenne Biermann Preis für künstlerische Fotografie. 1993, im dritten Studienjahr, beginnt er mit seiner Diplomarbeit und entschließt sich gleichzeitig, aber gemeinsam mit seinem Kommilitonen Mathias Marx, ein Fachlabor in Babelsberg zu eröffnen. Sein Diplom als Fotograf erhält er 1995; im selben Jahr den Förderpreis für Fotografie des Landes Brandenburg. In seiner Bewerbung für den Förderpreis reichte Michael Lüder eine Auswahl von Fotografien aus seiner Diplomarbeit ein. Der Arbeitstitel lautete »Verstellter Raum«. Ich erinnere mich an die Bilder, die ich in der anschließenden Preisträgerausstellung im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur gesehen habe. Die Fotografien waren ausschließlich schwarz/weiß. Es handelte sich um Stadtlandschaften, die er in der ersten Hälfte der 90er Jahre in der Potsdamer Innenstadt und Potsdam West aufgenommen hatte. Mit dem Titel »Verstellter Raum« bezog er sich auf ein neues Gefühl der Enge inmitten urbaner Orientierungslosigkeit. Wohl unterscheidbar von dem Gefühl des Ummauertseins vor 1990. Seine Auswahl frappierte mich. In aller Deutlichkeit, aber tiefer Ambivalenz, hatten sich seine Augen wund gestoßen und festgehalten, was ihnen zu entgleiten schien. Die Vertrautheit seiner Stadt. Ihre disparate Gestalt wurde formlos. Bauzäune wucherten in die Höhe. Das Eckige überwog. Der offene Blick – diffus und auf neue Weise begrenzt. In den gähnenden Brachen der Baustellen, dem schleppende Geschehen und dem immer auffälliger werdenden zusammenhanglosen Mix aus alten und neuen Gebäuden. Michael Lüder zeigte unwirtliche Stadtteile im Halbdunkel des Herbstes und Frühwinters. Er nahm mit dieser Serie ein Zeitgefühl vorweg, das sich bei vielen, der hier Geborenen, erst in der zweiten Hälfte der 90er Jahre eingestellt hat. Ein Gefühl der Distanziertheit. Als wäre einem die eigene Umgebung unversehens fremder geworden. Er hatte innerhalb des Ab- und Wegräumens der Übergangszeit seine eigene Landschaft einem emotionalen Befund unterzogen und sich wie Manfred Paul eine sehr persönliche bildästhetische Übersetzung erschlossen. 2003 traf ich Michael Lüder zweimal im Regionalexpress, der zwischen Potsdam und Berlin verkehrt. Er war mit dem Fahrrad unterwegs und erzählte mir, dass er begonnen habe, den Verlauf der Mauer in Berlin zu rekonstruieren. Nach geführten Stadtwanderungen überließ er sich den aufgesuchten Orten allein und entwickelte die Vorliebe, dies vor allem abends und nachts zu tun. Er fotografierte, in dem er menschenleere Straßen und Plätze festhielt, die nur in dieser besonderen Leere und dem von ihm gewählten späten Licht ihre Wirkung entfalteten. Nüchtern sind auf den Passepartouts die Orte und das Jahr bezeichnet. Und doch ist der Fotograf mehr als ein Chronist. Er wechselte den Standort und damit auch die Blickrichtung. Schaute mit der Kamera von Ost- nach Westberlin, aber auch von West- nach Ostberlin. Dieser Blickwechsel überrascht besonders dann, wenn es sich um für den Betrachter vertraute Orte handelt. Mir ging es beispielsweise mit der Glienicker Brücke so. Er erzeugte in seinen Bildern eine atmosphärische Aufladung, die ein Innehalten hervorgerufen hat und die unmittelbare Wahrnehmung mit der persönlichen Erinnerung zu verbinden vermochte. Jedes einzelne Bild birgt ein Kontinuum aus konkreter Zeit und konkretem Raum, vergegenwärtigt und ruft etwas wach, ohne appellativ zu sein. Es sind Bilder, die die Wahrnehmung des Betrachters individualisieren. Für den konzeptionellen Ansatz und die künstlerische Qualität der bis 2004 entstandenen Bilder erhielt er ein Arbeitstipendium des hiesigen Kulturministeriums und stellte 2006 die Bilder in den Brandenburgischen Kunstsammlungen Cottbus erstmals öffentlich aus. Andy Kern konstatierte in seinem Geleitwort für den Katalog: »Als authentisches Bauwerk ist die Mauer fast vollständig verschwunden und damit auch als authentischer Ort des Gedenkens … und empfand in Anbetracht der Bilder: »Ein kalter Frieden liegt über der Szenerie.« Armin Hauer hingegen subsumierte 2006 in seiner Eröffnungsrede eher romantisierend: »Das Foto wird zu einem Dokument des Entschwundenen – der Fotograf ist ein postmoderner Geisterfotograf.« Der Rezensent Klaus Trende feierte überschwänglich die Entdeckung des Gefühls im historischen Prozess. Alle drei Autoren eint die Reflexion des Feingefühls für das Verborgene im Sichtbaren, mit der die Bilder angefüllt sind. 2006 recherchierte ich für einen Vortrag über Leipziger Absolventen für das Begleitprogramm der von Peter Herrmann kuratierten Ausstellung »Auslöser Potsdam«. Auch mein Eindruck war nachhaltig. Die Fotografien der Werkreihe »Nachträume – Grenzräume der Gegenwart« bewegten mich, in diesem Jahr, eine Auswahl von neun Bildern für den Pomonatempel vorzusehen, die zwischen 2004 und 2006 entstanden sind. Der Zeitpunkt der Eröffnung - am Mittwoch war der 13. August – und die Nähe zur beschriebenen ehemaligen Grenze bilden den zeitlichen und topographisch einstimmenden Rahmen. Michael Lüder ist heute nicht anwesend, weil er erst morgen aus dem Urlaub zurückkehrt. Für uns wird es jetzt Zeit, die Ausstellung zu eröffnen. Gestatten Sie mir noch einen Nachtrag in eigener Sache 1993 wurde der wiederhergestellte Pomonatempel der Öffentlichkeit übergeben. Der Innenraum konnte jedoch bis heute nicht in seinen ursprünglichen Zustand versetzt werden. Dafür reichte das gespendete Geld letztendlich nicht aus. Allein diesem Zustand ist es jedoch zu verdanken, dass in jedem Kalenderjahr vier Wechselausstellungen gezeigt werden können. Die heute eröffnete Ausstellung ist die letzte in diesem Jahr. Sie wird bis zum 5. Oktober zu sehen sein. Ich habe mich nach drei kuratierten Ausstellungen mit der Möglichkeit angefreundet und würde mich freuen, auch im Namen des Potsdamer Kunstvereins, wenn weitere Wechselausstellungen im nächsten Jahr ein Gastrecht erhalten. Ich hoffe, das wäre auch in Ihrem Sinn. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.